Der Schritt zum Individuum -

Durch Verzicht zur Freiheit

Zum besseren Verständnis dieses Beitrages, insbesondere der Bedeutung des sog. Tagbewußtseins, empfiehlt sich die Lektüre der einführenden Erläuterung zum Großen Sonnengesang. (siehe Startseite Ägypten)

Die bildhafte Grenze für das neue Wachbewußtsein ist der Horizont. Hier beginnt und endet der sichtbare Sonnenlauf, hier ist die Trennlinie zwischen Tag und Nacht. Dieses neue, noch nicht vorhandene aber anzustrebende Bewußtsein war die Vision Echnatons. Es benötigte, besonders für den Ägypter, ein sichtbares Zeichen. Aus genauer Einsicht in das Wesen des neuen Bewußtseins, setzte Echnaton dieses Zeichen in der Form eines Zentrums. Man könnte ja denken, es hätte genügt, z.B. überall im Land eine Reihe von besonderen Denkmälern bauen zu lassen, so wie das früher üblich war. Das war aber nicht der Fall. Wie weiter unten gezeigt werden soll, ist dieses wache Tagbewußtsein eng damit verbunden, daß der Mensch sein Zentrum in sich selbst, in seinem eigenen Innern empfindet. Als sichtbares Zeichen dieses inneren Zentrums, lies Echnaton auf dem Ostufer des Niles eine neue Stadt bauen und gab ihr, wohl überlegt, den bezeichnenden Namen "Achet Aton" - Horizont des Aton. 

Diese Namensgebung war zugleich Programm. Ein Programm, in das er sich selbst in besonderer Weise mit einbezog. Denn beim Einzug in die neue Stadt machte er an jeder der 14 Grenzstelen Halt und schwor einen heiligen Eid, niemals wieder diese Grenze überschreiten zu wollen.
Wiederum wird hier in der typischen Bildsprache Ägyptens ein tieferes Geschehen als äußerer Vorgang geschildert. Als lediglich äußerer Vorgang,  wäre dieser Schwur im politischen Alltag vermutlich gar nicht praktikabel gewesen. Selbst wenn Echnaton die Stadt tatsächlich nie verlassen haben sollte, wäre der Sinn eines solchen Schwures nicht recht zu erkennen. 
Die Grenzen des Horizontes nicht zu überschreiten, hatte für Echnaton, bedenkt man die Aussagen seines Sonnengesanges, eine viel weitreichendere Bedeutung. Für ihn hieß das, niemals wieder die Möglichkeiten des Nachtbewußtseins nutzen zu wollen, sondern sich fortan nur noch innnerhalb der Grenzen des Horizontes des Aton, des Tagbewußtseins zu bewegen.
Für einen heutigen Menschen
wäre ein solches Vorhaben eine billige Sache. Der heutige Mensch verfügt über diese alte Bewußtseinsform ohnehin nicht mehr. Für ihn wäre das keine Beschränkung, sondern ganz normale Notwendigkeit und keinesfalls wäre damit irgendeine opfervolle Tat verbunden. Für Echnaton hatte dieser Schwur jedoch dann einen Sinn, wenn er über beide Bewußtseinsformen verfügte, wenn er sich in beiden Bewußtseinsformen bewegen konnte und nun aus freien Stücken auf die Betätigung des Nachtbewußtseins verzichten wollte. 
So sehr dieser Verzicht zweifellos ein riesiges Opfer darstellt, so sehr liegt aber auch ein Gewinn darin.  Der Verzicht auf die nächtlichen Inspirationen von außen bedeutet ja auch, daß das Handeln nun von den eigenen inneren  Impulsen her begründet werden kann und eben nicht mehr den "Anweisungen" von außen folgen muß.
Und genau das ist es, was wir auch heute noch unter Freiheit verstehen.
Somit steht die Gestalt des Echnaton vor uns, als erste Individualität der geschriebenen Geschichte. Dieses erste Aufleuchten eines individuellen Innenraumes im Menschen macht uns diese Gestalt so vertraut, macht sie zu einer modernen Gestalt.
Gleichzeitig ist jedoch manchem von uns diese Gestalt rätselhaft und fern in ihrer Überzeugung, daß der Einzug des "göttlichen Wortes" in das Innere des Menschen ihn zur Freiheit befähigt. 
Weshalb das so ist und wie das funktioniert, läßt sich mit herkömmlicher Logik nicht erklären. Hier kommt nun unser Verstand seinerseits an seine Grenzen. Diese Grenze kann im Sinne individueller Freiheit nicht kollektiv mit Verstandesmitteln überschritten werden. Daran ändern auch die zahlreichen Gottesbeweise nichts.

Dieses "Koan" muß heute jeder Mensch individuell mit seiner ganzen Existenzerfahrung lösen.
Um zu seiner Freiheit zu gelangen mußte Echnaton eine Grenze ziehen.
Um zu unserer Freiheit zu gelangen, müssen wir diese Grenze heute wieder überschreiten.
Zum Begriff des "Koan":
Der Begriff kommt aus dem Zen. Ein Koan beinhaltet eine Aufgabe, die mit Verstandesmitteln nicht zu lösen ist. Ein sehr bekanntes Koan eines östlichen Meisters lautet: "Klatsche in die Hände. Es gibt einen Ton. Lausche dem Ton einer Hand."  Manchmal erst nach Jahrzehnten qualvollen Suchens, kann der Schüler zu dem plötzlichen Erlebnis kommen (jap.: satori), daß er von der dualistischen Verstandesebene auf die Existenzebene wechselt und daß das Rätsel gar keines ist.
(Der Begriff "Existenzebene" ist hier natürlich eine Verlegenheitslösung. Diese Ebene ist der Verstandeslogik ja gerade nicht zugänglich und entzieht sich somit einer leicht verdaulichen Definition.
Dies soll also nicht dazu verleiten, zu glauben, daß es eine mystische Ebene in der Art mancher Fast-Food-Esoterik wäre. Auch in den östlichen Kulturen wurde sie nur durch äußerste Disziplin und langjährige Übung erreicht.)

Im Übrigen hält auch die heutige technische Welt manches Koan für uns bereit. So könnte z.B. die rätselhafte Dualität radioaktiver Stoffe so ein Koan sein. Einerseits ist die sog. Halbwertszeit der Stoffe mit hoher Genaugkeit berechenbar. Andererseits tritt hier möglicherweise der einzig echte Zufall in der Physik auf. Denn es ist nicht vorhersehbar, welches Teilchen als nächstes zerfallen wird.
Unser Koan für den Physiker könnte also lauten: "Suche den (geistigen) Ort, wo Gesetz und Zufall kein Widerspruch mehr ist."
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