Stier- und Widderkultur

In den künstlerischen Darstellungen hauptsächlich des Mittelmeerraumes, aber auch angrenzender Gruppen (z.B. Hallstattzeit A und B) fällt eine Konzentration von Stierdarstellungen vor dem 8. Jhd., sowie eine ebensolche Häufung von Widderdarstellungen nach dieser Zeit auf. Wobei in einigen Fällen (z.B. beim abgebildeten Widderträger) die zeitliche Trennlinie erstaunlich scharf ist. Dabei sind Stier und Widder nicht etwa auf den Bereich bäuerlich- landwirtschaftlicher Szenen beschränkt. Vielmehr finden sich Stier- und Widderdarstellungen an zentralen räumlichen und geistigen Orten des Kultus, wie etwa Tempeln, Altären und Mythen. 

Astronomisch gesehen, steht der Frühlingspunkt der Sonne (Tag- und Nachtgleiche am 21. März) von etwa 2900 an im Sternzeichen Stier und ab dem 8. Jhd. v. Chr. bis zum Beginn der Neuzeit (15. Jhd.) im Widder. Ab der Neuzeit steht er im Sternzeichen Fische. Das in alten Kulturen ausgeprägte Bewußtsein von der Beziehung zwischen kuluturgestaltenden Kräften und kosmischen Verhältnissen drückte sich aus in dem wohl ältesten, hermetischen Satz der Menschheit: "Es ist alles Unten, wie Oben." - modern gesprochen: Im Mikrokosmos findet sich das Abbild des Makrokosmos. Dieses Bewußstsein hat sich sogar bis in das christliche Vaterunser erhalten: "Wie im Himmel, also auch auf Erden."

Im Hinblick auf das Stierzeitalter haben die Beispiele aus Ägypten, Kreta und Israel einen geradezu populären Bekanntheitsgrad erreicht: Der ägyptische Kult des Apisstieres, der bis in die Spätzeit lebendig war, sowie der berühmte Stiertanz auf Kreta. Das "Goldene Kalb" (Apisstier) im Alten Testament, mit dem Israel nach dem Auszug aus Ägypten "rückfällig" wurde, erscheint hier sogar als der Repräsentant des ägyptischen Bilderbewußtseins des Stierzeitalters.  - Es war gerade der Moment, in dem Moses vom Sinai herunterkam und keineswegs zufällig war eines seiner Gebote: "Du sollst dir kein Bild machen!" Das heißt, du sollst das Bilderbewußtsein des Stierzeitalters hinter dir lassen. Die besondere Bedeutung dieses Vorganges liegt darin, daß hier schon weit vor Ablauf des Stierzeitalters, der Impuls das Bilderbewußtsein weiter zu entwickeln zu einem abstrakten Bewußtsein, umgesetzt wird. Außer bei  Echnaton, findet sich dafür in der Geschichte kein weiteres Beispiel. -

Unter den damaligen Mythen ist sicherlich die Erzählung von Theseus und dem Stier (Minotauros) noch aus der Schulzeit bekannt. Hier tritt uns ein geistges Geschehen in erzählerischer Bildform entgegen. Das alte Bilderbewußtsein des Stierzeitalters, in dem sich der modernere Geist des Theseus nicht mehr orientieren kann und das ihn verwirrt, tritt ihm im Mythos als Labyrinth des Minotauros entgegen. Dieses alte Bewußtsein wird abgelöst durch die Fähigkeit, logische Gedankenketten bilden zu können. In der Erzählung wird dies damals, wie auch heute noch, im Bild des "roten Fadens" widergegeben.  Theseus bekommt  von Ariadne ein Wollknäuel, das er innerhalb des Labyrinthes abwickeln soll, um auch wieder heraus zufinden. Damit, mit der Fähigkeit des folgerichtigen Gedankenfadens (der im Gegensatz zum zweidimensionalen Bild nur noch eindimensional ist), "tötet" er den Stier und die imaginative Welterkenntnis wird endgültig abgelöst von einer gedanklich-logischen Erfassung und Verarbeitung der Weltinhalte. Das äußere Zeichen hierfür ist in der folgenden Kulturepoche der Widder, bzw. das Widdergehörn.

Und während in der ägyptischen Epoche eine Göttin, Hathor, mit den Kuhhörnern oben auf dem Kopf erscheint, sieht man jetzt, in der Widderepoche, den Menschen Alexander den Großen mit dem Widdergehörn an der Stirn. Die Bilder, die Imaginationen, die einst von den Göttern kamen, sie sind jetzt als Gedanken in den Menschen eingezogen. Zwar schildert Homer in der Ilias noch ausführlich, wie die Gedanken und Gefühle auch bei den Griechen zunächst noch von den Göttern kamen, aber schon bei Odysseus, als Vertreter der nächsten Kulturstufe, ist das nicht mehr der Fall. Anders als in der Ilias, wo z. B. ein Achilles stets die Göttin Athene zur Seite hatte, die auch den Flug seines Speeres auf Hektor lenkte, bewältigt Odysseus seine Herausforderungen mit "List und Tücke", die seinem eigenen Gedankenleben entspringen.

Bald darauf finden sich die ersten Philosophen der Geschichte und Mathematiker, die jetzt nicht mehr aus traumhafter Imagination heraus, sondern, wie Odysseus, mit der ganzen Schärfe ihres Verstandes ein neues Weltbild bauen und damit einen nächsten Entwicklungsschritt der Menschheit einleiten. Ab jetzt wird die Welt auf Geometrie aufgebaut (Euklid, Phythagoras, Platon) und der Gedanke des Atoms wird zum ersten mal in Griechenland gedacht (Demokritos). Der direkte Zugang zum geistigen Daseinsgrund der Welt ist entgültig versperrt und die Wahrnehmungstiefe reicht nur noch bis zur elementarischen Schicht: Erde, Wasser, Luft und Feuer. (Die sog. "Vier Elemente" sind jedoch nicht im Sinne heutiger chemischer Elemente zu verstehen!) Folglich entstehen die ersten nichtreligiösen, philosophischen Weltanschauungen, deren Kernaussage - Entstehung der Welt aus Feuer, aus Wasser usw. - zum nicht geringen Teil abhängig ist vom persönlichen Temperament des jeweiligen Philosophen.

Das endgültige Ende aller Stierkulturen wird mit einem sehr bekannten äußeren Zeichen besiegelt: die Gründung Roms im Jahre 753.

Die Tatsache, daß die alten Kulturen ein Bewußtsein von diesen kosmischen Konstellationen hatten, zeigt sich an einer Art Sonderfall der ägyptischen Geschichte. Zu einer Zeit, als Rom bereits Weltmacht geworden war und seinen Einfluß auch auf Ägypten ausgedehnt hatte, hatte sich tief im Süden des alten ägyptischen Reiches zwischen dem 5. und 6. Katarakt (Nubien, das Gebiet des heutigen Sudan) eine späte Kulturströmung gebildet, die noch überwiegend in den äußeren Formen und Inhalten der ägyptischen Kultur lebte: die Kultur der Meroe (in der Bibel als Kandaken bezeichnet). Diese Kultur baute Pyramiden und schrieb in Hieroglyphen. Hier herrschten bis 400 n. Chr.(!) stolze afrikanische Königinnen nach einer ähnlichen Tradition, wie sie im unterägyptischen Mutterrecht bestand.  Man könnte diesen Kulturrest als ein letztes Rückzugsgefecht, als ein verzweifeltes Festhalten an der alten Zeit betrachten. 
Dies ist jedoch nicht der Fall.
Überrascht bemerkt der heutige Besucher die Reihen sphinxähnlicher Gestalten, die jedoch keine Sphingen mehr sind. Es sind ausnahmslos Widder, die neue Gestalt des Amun im Widderzeitalter.

Beispiele für Stier-Widder Kulturen

Zurück zur Startseite Ägypten

HOME - echn-aton.de