Das Ich im 20. Jahrhundert am Beispiel von Edward Hoppers Werk
Edward Hopper lebte und arbeitete bis zu seinem Tode (1967) in New York. Das Ehepaar Hopper besaß jedoch in South Truro auf Cape Cod (Massachusetts) ein Sommerhaus mit Atelier, wo viele seiner Bilder entstanden.
E.Hopper, "Cape Cod Morning"

"Cape Cod Morning"
, 1950

 Öl auf Leinwand, ca. 87x102 cm, National Museum of  Modern Art, Washington DC.
Ein Haus mit Erker im ländlichen Stil, umgeben von offenbar unberührter Natur.
In diesem Erker eine Frau, deren konzentrierter Blick zwar nach draußen geht aber sie scheint das Objekt ihres Interesses nicht richtig ins Auge fassen zu können. Ihre Körperhaltung drückt Erwartung, vielleicht sogar Ungeduld aus. Jedenfalls ist eine starke innere Anspannung zu spüren. Zudem umfaßt sie mit beiden Händen die Tischkante, so als müsse sie an sich halten. Die Gestalt der Frau und ihre direkte Umgebung im Innern des Erkers ist in ein gleißendes Licht getaucht.
Durch die Lichtführung ist die Außenwand des Erkers im Schatten. Er wirkt dadurch sehr massiv, fast wie ein eigenes Gebäude. Die zwei schwarzen Farbbalken links und rechts der Frau verstehen sich wohl als Fensterläden. Sie sind allerdings in Lage, Farbe und Größe recht rätselhaft. Sie weichen von der Farbgebung des übrigen Hauses stark ab und sie würden in geschlossenem Zustand das Erkerfenster nicht vollständig bedecken.

Dies spielt sich alles in der linken Hälfte des Bildes ab.

Die Natur im Außenraum in der rechten Hälfte des Bildes fällt zunächst gar nicht so sehr ins Auge. Bei näherer Betrachtung fällt allerdings auf, daß die Umgebung des Hauses nichts von dem zeigt, was man normalerweise hier erwarten würde: einen Garten, einen Weg, ein Feld vielleicht oder ein Nebengebäude. Die Art, wie hier die Gegensätze von gestaltetem Innenraum und naturhaftem, unbearbeitetem Außenraum direkt aufeinander prallen und sich fremd, ja fast feindlich gegenüber stehen, läßt die Frage entstehen, weshalb in einer so gottverlassenen Gegend überhaupt ein Haus steht und was die Menschen darin wohl dort zu finden hoffen.

An dieser Stelle wird klar, daß es sich hier nicht um die Wiedergabe einer äußerlich-realen Szene handeln kann. Hier wird etwas ins äußere Bild gebracht, was sich eigentlich im Innern des Menschen abspielt.

Wenn man von dieser Warte aus das Bild neu betrachtet, lösen sich manche scheinbaren Ungereimtheiten.
Das Haus ist jetzt kein Haus mehr am falschen Ort, sondern die physische Hülle, mit der sich eine Individualität – man könnte sagen: das Ich - bei der Geburt umgibt und, hier in Gestalt der Frau, darin Wohnung nimmt. Hier bildet der Geist nach und nach einen seelischen Innenraum aus, in dem er sich betätigt und seiner Individualität entsprechend wirksam werden kann. Die Außenseite dieser Hülle, die Haut des Körpers, grenzt direkt an die grundsätzlich anders geartete Außenwelt. Zwar, auf der physischen Ebene machen wir diese Grenze durch Nahrungsaufnahme und Atmung ständig durchlässig.
Dies ist jedoch nicht die Ebene, die Hopper hier darstellt. Hier steht ein deutlich abgegrenzter Innenraum einem weglosen, kaum zugänglichen Außenraum gegenüber.
Hopper malt hier die Frage, wie dieses den Innenraum bewohnende Ich seiner selbst bewußt wird und woher es seine Motive bezieht.
Daß dies der Fall ist, ist ihm gewiss. In der Mitte seines Schaffens äußert er sich dazu folgendermaßen:

„ Der Kern, um den der Künstler sein Werk errichtet, ist er selbst; es ist das zentrale Ich,
die Persönlichkeit oder wie man es auch nennen will.“

Das Gewahrwerden seiner selbst, das „Ich bin“ ist ein Ereignis, welches in das hellste Licht der Erkenntnis getaucht ist - genauso, wie die Frau im Erkerfenster. Der Moment, in dem der Mensch erkennt, daß er ein Ich ist und sich somit von allen anderen unterscheidet, dieser Moment geht unweigerlich mit dem Gefühl der Einzigartigkeit, der Individualität aber auch mit dem Gefühl großer Einsamkeit einher. (Siehe auch die Erläuterungen zu Echnatons Sonnengesang)

So löst sich hier auch eine andere scheinbare Ungereimtheit. Außerhalb des Hauses müßte es eigentlich heller sein als in seinem Innern. Im Bild ist es aber gerade umgekehrt. Die Bäume des Außenraumes erscheinen, obwohl direkt von der Sonne beschienen, in fahlem, verblaßten Grün. Sogar das Grün der Jalousie im Innern des Erkers erscheint lebendiger als das der Bäume. Und ein Teil des Erkerinneren erstrahlt sogar in kräftigem Sonnengelb.

Eine weitere solche Ungereimtheit des sichtbaren Bildinhaltes ist noch zu klären: die sogenannten Fensterläden. Diese zwei schwarzen Farbbalken vor und hinter der Frau, sie stellen gewissermaßen einen wahrnehmungstoten Raum dar. Sie zeigen die gegenwärtigen Grenzen unseres normalen Bewußtseins aus denen die Frage

"Woher kommen wir? Wohin gehen wir?"
entsteht. Denn würde das Ich sich in seinem vollen, ewigen Wesen erkennen, so wüßte es ja, wo es sich zum Beispiel während des Schlafes aufhält, oder wo es vor dem Einzug in den irdischen Körper war oder welchen Weg es nach dem Absterben seiner physischen Hülle nehmen wird. Dieser Blick zurück und auch der nach vorne ist dem heutigen Alltagsbewußtsein verschlossen. Wie sollte das wohl ein Maler treffender ins Bild bringen, als durch die Art, wie sie Hopper hier gelungen ist?

Ein Detail, welches unsichtbar der Bildkomposition zu Grunde liegt, muß noch erwähnt werden.
  • Aus der Verlängerung der Linien der Bretter, welche die Hauswand bilden, läßt sich der Fluchtpunkt des Bildes ermitteln. Der Schnittpunkt dieser Linien liegt rechts außerhalb des Bildes.
  • Die Bretter sind liegend eingebaut, d.h. sie liegen parallel zur Erdoberfläche. Nach den Gesetzen der Perspektive liegt somit der Fluchtpunkt auf der Höhe des Erdhorizontes.
  • Der Blick der Frau geht genau auf diesen Punkt zu. Die Frau blickt somit auf den selben Punkt, auf den schon 4000 Jahre vorher die ägyptische Statue geblickt hat: auf den Horizont, diesen Ort zweier Welten, endlich und unendlich zugleich. Daher kann sie diesen Ort auch nicht richtig ins Auge fassen. (Würde ihr das gelingen, dann wären auch die zwei schwarzen Balken nicht mehr nötig.)
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